Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Post einleiten soll. Aber es gibt keine Worte, die beschreiben können, wie es für jemanden ist, vor Krieg, Gewalt und Bomben flüchten zu müssen. Ich selbst weiß nicht, wie es sich anfühlt. Alles was ich weiß, ist dass wir diesen Menschen helfen müssen.
Letzte Woche wurde ich von Angelika Mlinar eingeladen, sie nach Jordanien zu begleiten. Als Vizepräsidentin von ALDE (Alliance of Liberals and Democrats for Europe) war sie seit letztem Jahr in mehreren Ländern unterwegs, um die Lage geflüchteter Menschen einzuschätzen. Die EU finanziert nämlich (neben vielen anderen Geldgebern) solche Flüchtlingsunterkünfte. In Jordanien leben momentan über 640,000 Syrer, knapp 119,000 davon in Flüchtlingslagern, der Rest in urbanen Gegenden. 90% aller Syrer in Jordanien leben in Armut, mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung in Jordanien sind Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren.
Und wie ist das jetzt so, in einem Flüchtlingslager?
Es ist anders, als gedacht. Denn in Azraq funktionieren die Dinge offensichtlich besser, als bei uns. Das Refugee Camp Azraq befindet sich in der Wüste und bietet Platz für über 60.000 Personen, momentan ist ca. die Hälfte ausgelastet. Neben Azraq ist Zaatari die größte Flüchtlingsunterkunft. Man geht außerdem davon aus, dass 45.000 Syrer nach wie vor im “Niemandsland” gestrandet sich, sprich irgendwo im Grenzgebiet.
In Azraq gibt es Hütten, für die die BewohnerInnen Schlüssel haben. Jede Person bekommt 20 Jordanische Dinar im Monat, das entspricht 25€. Jordanien ist ein teures Land und auch wenn es mitten in der Wüste, im Flüchtlingslager, einen Supermarkt gibt, kosten die Dinge dort genau so viel wie in der Stadt. Eine wärmere Kinderjacke kostet dort 4,30€ – bisschen weniger als ein Viertel vom Monatseinkommen. Die Menschen leben in Armut, auch wenn es ein “vorbildliches” Lager ist. Die Männer können nicht mehr für ihre Familien sorgen, sie suchen sich in der Stadt illegale Arbeit. Denn in Jordanien dürfen Asylwerber, wie auch in Österreich, nicht arbeiten.
Die Jungs gehen am Vormittag in die Schule, die Mädchen am Nachmittag. Es gibt “informal education”, eine Art Hort für die Kinder, die noch nicht bereit für die Schule sind oder für diejenigen, die weitere Aktivitäten und Förderungen brauchen/wollen. Ich frage mich wie man Elektrizität für so viele Menschen erzeugt und stelle mit Erstaunen fest, dass es Solarmodule über jeder Hütte gibt und die Mitarbeiterin der UNHCR erklärt mir, dass Ikea den Großteil dieses Projekts finanziert hat.
Dann besuchen wir eine syrische Familie in ihrer Unterkunft. Weil sie sieben Familienmitglieder sind, bekommen sie zwei Hütten. Für 6-köpfige Familien gibt es nur eine Hütte, was viele Familien vor eine Herausforderung darstellt, da Frauen und Männer kulturell bedingt getrennt schlafen. Abseits der Kultur: wenn ich mir vorstelle zu sechst auf so kleinem Raum zu leben, wird mir ganz anders. Der Vater erzählt uns, dass er Bäcker war, er hatte ein eigenes Unternehmen, ein schönes Haus. Die Töchter sprechen fließend Englisch, die Jüngere errötet, weil sie vor lauter Nervosität die Frage “which grade are you in?” nicht sofort beantworten kann. Sie hatte noch nie eine EU-Parlamentarierin in ihrer Hütte als Gast.
Die Familie lebt in der Wüste, sie wissen nicht ob und wie die Großeltern sicher fliehen können und machen jeden Tag eines: beten. Sie beten für einen Neuanfang, für ihre Kinder, die alle gerne Medizin studieren würden.
Und das ist der Moment, in dem mir die Tränen in die Augen schießen. Azraq ist vorbildlich, es ist hundert mal fortschrittlicher als das, was wir in Europa fabriziert haben. Aber: es sind nach wie vor Menschen, die ALLES verloren haben. Ihr Zuhause, ihre Freunde, jegliche Existenz, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut haben. Sie wissen nicht, wie lange sie noch dort bleiben müssen und sie wissen nicht, wie es weiter geht. Sie haben keine Arbeit, warten darauf, dass jeder Tag vorbei geht und dass der Krieg ein Ende nimmt. Denn alle, mit denen ich gesprochen habe, haben mir eines gesagt: “Ich will zurück nach Hause”.
Die Zeit ist knapp, Angelika Mlinar ist Politikerin und das bedeutet, dass sie sich gern mehr Zeit nehmen würde, aber nicht kann. Zwischendurch höre ich bei ihr immer eines durch: Ärger. Über das Parteien-Hick-Hack im EU-Parlament. Im Libanon machen syrische Flüchtlinge 25% der Bevölkerung aus, in der EU 0,2%. In Lybien ist jeder 3. Bürger Flüchtling, in der EU jeder 2000. – und wir regen uns auf? Was bitteschön sollen die uns wegnehmen? So klar habe ich es noch nie gesehen. Ich weiß jetzt: die jordanische Regierung ist sehr tolerant. Viel toleranter als so manches Land in der EU, das die finanziellen Mittel hätte, mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen.
Als nächstes besuchen wir die IOM (International Organization for Migration) und das ist der Teil meines Jordanien Besuchs, der wirklich Spuren hinterlässt. Ich erfahre über Rukban.
Die Grenze zwischen Syrien und Jordanien ist keine Grenze im klassischen Sinn, es ist ein Sandbankett. An der östlichsten Seite des Landes befindet sich ein “crossing point”, der inzwischen unter dem Namen Rukban bekannt ist. Viele Syrer versuchen an dieser Stelle nach Jordanien zu gelangen, im September 2015 waren es 4,000 Menschen, inzwischen spricht man von 49,000 Menschen. Jordanische Grenzsoldaten haben den Befehl auf ankommende Menschen zu schießen, es soll abschreckend wirken. In Rukban versucht man zu helfen, aber es ist logistisch schier unmöglich. Die IOM, WFP (World Food Programme) und UNCHR bemühen sich, die vielen gestrandeten Menschen zu versorgen, die sich aus Decken provisorische Zelte gebaut haben. Rukban ist mitten in der Wüste, die nächste Stelle um Wasser zu holen ist 2,5 Autostunden, die Hauptstadt Amman über 400km entfernt. Die nächste IS-okkupierte Stadt ist bloß 70km weit weg, man befürchtet, dass sie ins Lager rekrutieren kommen könnten.
Die freundliche Dame der IOM erklärt uns, dass Aggression und Gewalt ein weiteres Problem sind. Zuletzt habe man versucht warme Speisen an 49,000 (!) Menschen auszuteilen, als Panik ausgebrochen sei. Dass Verzweiflung diesen Ausmaßes zu Ausschreitungen führt, ist für mich nicht überraschend.
Wir fahren zurück. Es gibt ein Dinner im Hotel, mit Bediensteten der österreichischen Botschaft, auch eine Mitarbeiterin von Caritas Jordan ist dabei. Wir sind wieder zurück, in unserer Blase, in der wir leben. Als ich ins Bett gehe, lese ich mir die Unterlagen durch. Die UNHCR hat 9% der notwendigen Summe, für ihre Operationen, bereits finanziert. 320 Millionen Euro werden es im Jahr 2016 sein, die man braucht.
Es geht um Geld. Wir bauen Zäune, weil wir Angst haben, dass man uns was weg nimmt. Wir haben Angst, dass unsere Steuergelder für Sozialschmarotzer ausgegeben werden. Wir haben Angst, dass wir teilen müssen. Doch da denke ich mir: solange man etwas zu teilen hat, kann man solidarisch sein. Können wir es nicht alle bis zu einem Gewissen Grad vertragen, dass wir teilen? Dass wir unser Herz und unsere Türen öffnen und jemanden herein lassen, weil wir ohnehin genug haben? Oder verteidigen wir unsere Blase, um jeden Preis?
Im Lissabon-Vertrag werden die Werte der Europäischen Union angeführt. Da steht was von Förderung von Frieden und Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung. Gehen wir diesen Werten als europäische Gemeinschaft nach? Nein. Wir bauen Zäune.
Dabei brauchen wir keine Zäune, sondern Menschlichkeit.
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