„Ich liebe dich. Bitte vergib mir. Es tut mir leid. Danke.“ Was in Hawaii als der “Hoʻoponopono” Brauch bekannt ist, ist inzwischen zu meinem täglichen Mantra geworden. Ich habe es für mich in “I am sorry. I forgive you. I love you.” umgewandelt und versuche es jeden Tag mehr zu verinnerlichen.
Ich schreibe einen Blog, das heißt ich stehe mit einem großen Teil meiner Persönlichkeit in der Öffentlichkeit. Ich bin angreifbar. Und ich werde oft angegriffen: durch Bemerkungen zu meinem Aussehen, meinem (vermeintlichen) Charakter, meinen Aussagen. Doch es sind nicht nur Menschen von Außen, die uns angreifen, oft sind es wir selbst. Wir neigen dazu, unsere strengsten Richter zu sein. Wir beschuldigen uns täglich, ärgern uns über uns selbst. Gerade als junge Frau, habe ich mich in den letzten Jahren oft in Situationen wiedergefunden, in denen ich es schwer fand, mir selbst zu vergeben.
Ich bin jeden Tag mit Menschen konfrontiert, die Vollkommenheit von mir erwarten. Die mich für dieses und jenes Tadeln, oft destruktiv, weil hinter einem Keyboard versteckt. Ich werde für Kooperationen, Aussagen, Handlungen kritisiert. Doch aus solchen Kommentaren lerne ich immer eines: so wie man zu anderen ist, ist man meistens zu sich selbst (“was A über B sagt, sagt mehr über A aus, als über B.”). Das gilt genau so für Beziehungen, Freundschaften und familiäre Verhältnisse. Viele von uns sind gute Freunde, gute Zuhörer, immer für unsere Freunde da – doch sind wir uns selbst auch der beste Freund? Wir müssen lernen uns selbst so zu behandeln, wie wir einen guten Freund behandeln würden.
Verzeihen bedeutet keineswegs, jegliches Verhalten gut zu heißen. Wir geben lediglich die Forderung auf, dass der andere sich nach unseren Vorstellungen verhalten sollte. Und: wir geben die Forderung auf, dass wir so sein müssen, wie es andere oder wir selbst erwarten. Verzeihen tun wir in erster Linie für uns.
Nur ungern möchte ich zu viel Privates preisgeben, aber ich habe selbst sehr lange gehadert und Probleme mit diesem Thema gehabt. Jeden Tag bin ich mit diesem Thema konfrontiert, vor allem familiär. Ich habe seit meiner Kindheit ein sehr schwieriges Verhältnis zu meinem Vater, das in einem mangelnden Selbstwert als Teenager resultiert hat. Ich habe Aufmerksamkeit bekommen, wenn ich geleistet, mich vorbildlich verhalten habe. Ich habe bis heute sehr viele Schuldzuweisungen erleben müssen, für Dinge, für die ich nichts kann und konnte. Das lag daran, dass mein Vater eine sehr schwere Kindheit hatte und nie verzeihen konnte. Weder sich selbst, noch den Menschen, die ihm Schlimmes angetan haben. Ich musste lernen mit dieser Projektion umzugehen, damit umzugehen, dass ich zum Feind gemacht wurde, obwohl ich erst ein Kind war.
Oft resultieren Schuldzuweisungen und das “nicht Genug sein” unserer Eltern (aber auch Partnern) in perfektionistischen Ansprüchen sich selbst und anderen Menschen gegenüber. Es ist dieser Perfektionismus, der unser Glück sabotiert und es nicht erlaubt, dass wir Groll und Feindseligkeit durch Nächstenliebe und Verzeihen ersetzen. Wir bestrafen uns innerlich dafür, dass wir es um 6 Uhr Morgens nicht ins Fitnesscenter geschafft, sondern lieber geschlafen haben. Wir haben ein schlechtes Gewissen, weil wir wieder zu viel Geld ausgegeben haben. Wir sind enttäuscht, weil wir zu “dumm” für den Aufnahmetest waren. Wir hassen uns selbst für so viele Dinge. Dinge, die uns aber menschlich machen.
Dieser innere Dialog, der voll mit Schuldzuweisungen und -gefühlen ist, hat den größten Einfluss auf unser Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Es sind die Worte, die wir innerlich mit uns selbst und in weiterer Folge mit anderen austauschen, die uns entweder stärken oder vernichten. Wie oft führen wir einen kleinmachenden inneren Dialog, der es nicht zulässt, uns als wertvoll zu betrachten und unsere Unvollkommenheit zu akzeptieren.
In meiner schwierigen familiären Situation, dessen sehr schmerzliche Details ich hier nicht teilen möchte, fühlte ich mich sehr, sehr oft ohnmächtig. Und das war das Schwierigste: die Ohnmacht zu akzeptieren. Ich habe mich oft lieber selbst beschuldigt oder unterbewusst bestraft. Denn in unserer Kultur tilgt Strafe immer die Schuld. Selbst, wenn uns gar keine Schuld trifft.
Unsere Gesellschaft bietet wenig Raum für Fehler. Wenn Kinder in der Schule still sitzen, sich an die Regeln halten, werden sie gelobt. Wenn Frauen einem Schönheitsideal entsprechen, bekommen sie Komplimente. Wenn Männer stark sind, sind sie wertvoll. Wir lassen Andersartigkeit, Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit kaum Raum – weder anderen, noch uns selbst, sprechen wir diese Rechte zu. Doch unser ganzes Selbstwertgefühl und Selbstliebe hängt von der Fähigkeit ab, uns selbst und anderen zu verzeihen.
Aus der mangelnden Fähigkeit sich selbst zu verzeihen, entstehen oft krankhafte Verhaltensmuster, oft ist es ein restriktives Essverhalten, dass bei vielen als Essstörung endet. Oft sind es aber viel subtilere Verhaltensweisen, zum Beispiel das ständige Kritisieren des Partners. Verzeihen ist das Ändern der Perspektive: weg von dem was war, hin zu dem was sein kann. Ich habe es bei meinem eigenen Vater oft erlebt: das krampfhafte Versuchen, die Vergangenheit “gerade zu biegen”, statt die Ohnmacht, die die eigene Geschichte auslöst, als Ohnmacht zu akzeptieren.
Bei mir selbst war es das Akzeptieren, dass mein Vater keinen Kontakt mehr mit mir haben möchte. Dass er sich selbst so sehr hasst, dass er mir keine Liebe geben kann. Doch statt ihn dafür zu hassen, habe ich ihm verziehen. Ich habe die Tür offen gelassen, falls er es jemals schafft sich selbst und anderen zu verzeihen. Ich liebe meinen Vater, auch wenn er mich zutiefst verletzt hat. Genau so schaffe ich es inzwischen Menschen zu verzeihen, die mich kritisieren, angreifen, tadeln. Denn ich weiß: tief im Inneren unserer Herzen, haben wir für alle Platz, vor allem für uns selbst. Wir lassen es oft einfach nicht zu.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen sehr persönlichen Beitrag veröffentlichen soll. Doch letztendlich hat das Gefühl überwogen, dass ich weiß, dass es einigen von euch vielleicht ähnlich geht oder ging. Wir sind oft so streng zu und selbst und zu den Menschen die wir lieben. Doch das Einzige, was wir wirklich tun können, ist durchatmen, lächeln und sagen: “Ich vergebe dir. Es tut mir Leid. Ich liebe dich.” Zu und selbst und unseren Mitmenschen.
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