Es ist 14:03 Uhr, ich stehe vorm Ströck in der Karsplatzpassage. Ich bin ein paar Minuten zu spät und halte Ausschau nach ihr: Charlie. Ich weiß nicht, wie Charlie aussieht aber sie kennt mich von meinem Blog und wird mich schon finden. Plötzlich steht sie vor mir: eine wunderhübsche, attraktive Frau mit langem, blonden Haar, toller Figur, sie ist so klein wie ich, nur zierlicher.
Wir sitzen im Café und Charlie ist sichtlich nervös, ihre Augen glasig, ich möchte sie am liebsten umarmen, weil sie so tapfer ist und mit mir über etwas spricht, worüber sie nur mit wenigen Menschen spricht. Flashback.
1990 wird Charlie geboren. Sie verbringt eine ganz normale Kindheit, außer, dass sie etwas wilder ist, als die anderen Mädchen. Sie klettert auf Bäume, spielt Fußball, schlägt sich das Knie beim Radfahren auf und schneidet der Barbie ihrer Schwester die Haare ab. Zwischendurch verhält sich Charlie aber wie ein klassisches Mädchen, oder zumindest so, wie die Gesellschaft es von Mädchen erwartet. Zum Schulfoto mit 7 besteht sie auf das rosa Kleid.
Fünf Jahre später: Charlie ist 12 und merkt, dass etwas anders ist. Die meisten Mädchen in ihrer Klasse kaufen sich die ersten BH’s, die Schambehaarung beginnt zu wachsen, sie bekommen ihre Regel. “Du bist halt eine Spätentwicklerin, das liegt in der Familie!” beschwichtigt sie ihre Mutter. Innerlich weiß Charlie aber bereits, dass das nicht der Fall ist. Sie weiß, dass sie anders ist. Charlie besteht auf eine ärztliche Untersuchung, landet schlussendlich im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, mehrere Blutuntersuchungen und Ultraschalle später die Diagnose: Charlie ist intergeschlechtlich.
Charlie ist erst 12 Jahre alt, als sie erfährt, dass sie keine Eierstöcke, keine Gebärmutter hat und demnach nie Kinder bekommen kann. Stattdessen hat Charlie Gonaden im Bauchraum. Auch Keimdrüsen oder Hoden genannt. Es sind zwei Buchstaben, die Charlies Leben verändern: XY. Ihre Chromosomen sagen, sie sei männlich.
Es gibt unzählige Formen der Intergeschlechtlichkeit, Charlies Form nennt sich complete Androgene Insensitivity Syndrome, kurz cAIS. Das bedeutet, dass Charlie rein chromosomal ein Mann ist, ihr Körper jedoch resistent gegen männliche Hormone ist. Charlies Gonaden im Bauchraum wanderten also nicht nach unten, produzierten aber gleichzeitig männliche Hormone, die der Körper aber nicht aufnehmen konnte und in Östrogen umwandelte. Deswegen entwickelte sie auch weibliche, äußere Geschlechtsmerkmale.
Charlie ist 12. Sie erfährt, dass ihre Scheide nur 5 cm lang ist und somit zu kurz, um problemlos heterosexuellen, vaginalen Geschlechtsverkehr zu haben. Die Ärztin bietet die operative Entfernung der Gonaden an, auch eine Scheidenverlängerung sei möglich. Charlie ist 12, sie möchte einfach so schnell wie möglich, so normal wie möglich sein. Jetzt. Sofort.
Nachdem die im Bauchraum verbliebenen Hoden warm sind, befürchten die Ärzte die Gefahr eines Tumors. Heute weiß man, dass das Risiko bei Weitem nicht so hoch ist, wie man glaubte. Die Familie und Charlie entscheiden sich für die Entfernung der Gonaden. Charlie ist somit, wie viele andere XY-Frauen, auf lebenslange Hormonersatztherapie angewiesen, da die Gonaden im Bauchraum für die Hormonproduktion verantwortlich waren. Eine Zwangskastration, die zu mangelnder Hormonproduktion führt sozusagen. Bei vielen intergeschlechtlichen Menschen wird diese OP bereits im Kinderalter durchgeführt, ohne dass das Kind überhaupt Mitspracherecht hat, ob es ein Leben mit Hormonersatztherapie überhaupt will. Statt der Scheidenverlängerung rät die Ärztin zu einem Phantom, einem Stück Kunststoff, das die Scheide weiten und verlängern soll. Ihre ganze Jugend über muss Charlie immer größer werdende Phantome in ihre Scheide einführen, immer vor dem Schlafengehen.
“Stell dir vor, du bist auf Schullandwoche, und musst, wenn alle schon im Bett sind, aufstehen, um dir ein Stück Kunststoff einzuführen, um deine Scheide zu weiten. Und du bist die, die vor allen anderen aufsteht, um es wieder rauszuholen.”
Viele weiblich eingestufte, intergeschlechtliche Menschen bekommen Neovaginas, sie werden sozusagen “penetrationsfähig gemacht”. Mikropenisse werden abgeschnitten, Geschlechtsteile entfernt, Menschen für immer sterilisiert. Säuglinge werden operiert, weil die Harnröhre nicht in der Eichel, sondern im Schaft endet, damit sie im Stehen und nicht nur im Sitzen pinkeln können. Denn ein echter Mann, der muss ja im Stehen pinkeln können. Wir wollen uns Menschen so zurechtformen, wie wir uns das vorstellen, ohne dabei zu verstehen, dass das an Folter grenzt.
“Es war psychisch sehr schwer, das als Jugendliche zu verkraften. Gerade in dieser Zeit will man ja eigentlich nur dazugehören. Ich glaube die meisten Mädchen hassen ihren Körper in dieser Zeit, aber wenn dir dann auch noch gesagt wird, dass du eigentlich kein Mädchen hättest sein sollen, dann hasst du dich selbst wahrscheinlich noch viel mehr.”
Ein äußeres Geschlechtsmerkmal, das unter 0,7 cm liegt, gilt als Klitoris. Alles über 2,5 cm als Penis. Und dazwischen? Das Dazwischen rücken, schneiden und stutzen wir so lange zurecht, bis wir es zu Mann oder zur Frau gemacht haben, koste es was es wolle. Als wäre es ein verdammter Bonsai-Baum. Doch wir sprechen hier nicht von einer winzigen Randgruppe, wir sprechen von 1,7% der Bevölkerung, 20-25 Kinder jährlich in Österreich, die völlig im Stich gelassen werden. Es gibt ungefähr so viele intergeschlechtliche Menschen, wie es Rothaarige gibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einige intergeschlechtliche Menschen kennen, die sich nicht trauen, sich zu outen, ist also sehr hoch.
Ob intergeschlechtliche Menschen es wollen oder nicht: sie müssen sich einordnen, denn in unserer Welt haben wir keinen Platz für Grauzonen. Mann oder Frau, schwarz oder weiß. 170 Operationen an weiblichen eingestuften Kindern unter 5 Jahren waren es im Jahr 2014 in Deutschland. Diesen Kindern wird eines entzogen: das Menschenrecht auf einen unversehrten Körper.
“Es ist schwer nicht ein Schema zu passen wenn sich die ganze Gesellschaft nach diesem Schema richtet. Damit habe ich sehr oft zu kämpfen. Auch mit dem Vorurteil ‘Zwitter’ kann ich nicht umgehen. Ich mag das Wort einfach nicht.” Wir stehen jeden Tag vor Entscheidungen, die uns leicht fallen: auf’s Damen- oder Herrenklo, ob wir das Kreuzerl bei “weiblich” oder “männlich” machen. Und Charlie? Ist sie nun männlich oder weiblich? Charlie ist Charlie. Punkt.
In unserer Gesellschaft gibt es kaum Möglichkeiten, aus der Zweigeschlechtlichkeit auszubrechen. Nicht mal auf medizinischem Niveau, ist es intergeschlechtlichen Menschen möglich, durchzuatmen. Wenn im Pass “Frau” steht und man aber eine Prostata-Untersuchung braucht, weil man eben eine Prostata hat, dann wird die nicht von der Krankenkasse übernommen. Wenn Charlie ins AKH muss, muss sie auf die Transsexuellen-Ambulanz, obwohl sie nicht transsexuell ist. Die Krankenschwester fragt “sie sind also transsexuell?” und Charlie ist völlig bloßgestellt, muss einer wildfremden Person, zu der sie kein Vertrauensverhältnis hat, erklären, dass sie intergeschlechtlich ist und was das eigentlich bedeutet. Ihr ganzes Leben lang ist sie solchen Situationen ausgesetzt. Nach der Gonadenentfernung als junger Teenager wird sie zur Psychologin geschickt, die erste Frage lautet “wie kommst du mit deiner Regel zurecht?”.
“Mann und Frau sind nur die Endpunkte auf einer Linie, wieso schenken wir dem, was dazwischen liegt, nicht mehr Akzeptanz? Wieso MUSS ich mich entscheiden?”
Charlie hat große Angst davor, ungewollt geoutet zu werden. “Es gibt keinen Platz für mich in der Gesellschaft. Es gibt keine ‘dritte Option’, die ich wählen kann. Wenn es einen Platz für intergeschlechtliche Menschen gäbe, wenn andere wüssten, was das eigentlich ist und wir uns nicht mehr zwei Kategorien zuordnen müssten, wäre das einfacher.” Sie ist seelisch noch nicht bereit, sich so zu akzeptieren wie sie ist. Sie weiß, dass es ein harter, sehr anstrengender und emotional aufreibender Weg wird. Früher wollte sie so schnell wie möglich, so “normal” wie möglich sein. Heute möchte sie einfach nur sie selbst sein und das akzeptieren können.
Wir stehen vor der Toilette auf der TU, auf die linke Tür ist der Umriss eines Menschen mit einem Kleid angebracht, gegenüber der Umriss eines Menschen in Hose, dazwischen eine Wand. “Genau genommen, müsste ich jetzt in diese Wand rennen. Gleis 9 3/4 sozusagen.” Wir beide lachen. Manchmal geht es nur mit Humor.
Doch am Ende des Tages, kann ich nicht drüber lachen. Denn es macht mich wütend, dass wir in unserer Welt alles und jeden Normalisieren und Stereotypieren. Es macht mich wütend, dass intergeschlechtlichen Menschen ein Schamgefühl aufgezwungen wird, weil man ihnen das Gefühl gibt, nicht der Erwartung zu entsprechen. Obwohl es gar keine Erwartung gibt, denn am Ende des Tages, sind wir nicht weiblich oder männlich, sondern menschlich.
Wieso können wir Menschen, nicht Menschen sein lassen? Wieso muss “weiblich” oder “männlich” über das bestimmen, was wir sein sollen. “Du läufst wie ein Mädchen”. Das weibliche Klischee ist rund, das männliche Klischee ist eckig. Und Charlie? Charlie ist ein Dreieck. Ein verdammt schönes, vollkommenes Dreieck.
“Why not change minds, instead of bodys?” (Alice Domurat Dreger)
Info-Seiten für Interessierte und Betroffene:
http://vimoe.at/
http://www.plattform-intersex.at/
http://www.im-ev.de/
http://www.xy-frauen.de/formen/
Wer sich durch diesen Beitrag angesprochen fühlt, kann Charlie gern hier kontaktieren.
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