Ich war die größte Fleischesserin, die man sich nur vorstellen kann. Ich besuchte das Schinkenfest in Kärnten, behandelte meine Prosciutto-Maschine Zuhause wie ein Familienmitglied und ein kleines Steak war für mich die wertvollste Mahlzeit.
Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir mögen, was wir kennen und wir mögen es nicht, wenn etwas fremd ist. Wir mögen es nicht, weil wir es in erster Linie nicht verstehen. Schlichtweg, weil wir nie gelernt haben, es zu verstehen. Konfrontation mit Andersartigkeit und Fremdem ist etwas, was wir bereits als Kinder, Zuhause oder in der Schule lernen, oder eben nicht lernen. Fremdes zu verstehen wird in der Soziologie als “Fremdverstehen” bezeichnet und ist ein wesentlicher Bestandteil der Erkenntnisgewinnung. Es bedeutet, andere Lebenswelten sorgfältig zu durchdringen und uns diese mental anzueignen oder zumindest zu tolerieren. Fremdverstehen beginnt beim Umgang mit Menschen verschiedener ethnischer Herkunft und hört auf bei Wertvorstellungen von Menschen, zB. solche, die keine Tiere essen.
Anfang letzten Jahres, nach vielen Monaten der Recherche, legte ich einen Perspektivenwechsel ein: ich hörte auf tote (und lebende #lol) Tiere zu essen. Es war wie Schluss machen. Ich musste meinem Bruder beichten, dass ich ihm fortan kein Beef Jerky mehr besorgen werde. Ich trennte mich von meiner Prosciutto-Maschine und den Restaurants und Speisen, die ich so oft frequentierte.
“Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.”
Ich bin sehr dankbar, denn Multiperspektivität, Offenheit und Toleranz gegenüber Anderen habe ich, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, von Zuhause mitbekommen. Ich bin das Produkt einer multi-kulturellen Beziehung, war in einem bi-lingualen Kindergarten und Volksschule, habe ein Elternteil mit einer körperlichen Behinderung, bin von klein auf viel in andere Länder gereist und zwischendurch lebten auch geflüchtete Menschen bei uns Zuhause. Meine Mama unterrichtet ein mal die Woche Deutsch in einer Einrichtung für Asylwerber und hat einen afghanischen Ziehsohn, der vorbildlicher ist, als jede/r AustauschschülerIn, den/die sie je empfangen hat. Fremdes zu verstehen fällt mir wirklich leicht. Das sage ich nicht aus Arroganz oder Überlegenheit heraus, sondern weil ich eigentlich nichts dafür tun habe müssen: meine Eltern haben es für mich getan. Und ich weiß, wie schwer es sein muss, wenn man Fremdverstehen erst im Erwachsenenalter lernen muss.
Tattoos waren für mich immer “Unterschicht”. Und ja, diesen politisch inkorrekten Begriff habe ich bewusst gewählt. In den 80er waren Tattoos noch ein exotisches Zeichen der Abgrenzung, spätestens seit ich ein Teenie war, mit Schmuddel-Image und Popkultur verhaftet. Wieso ich Tattoos schrecklich fand? Weil, so weltoffen mein Zuhause auch war, Tattoos immer abschätzig kommentiert wurden. Seit letztem Jahr bin ich also tätowierte und gepiercte Veganerin. Ich bin sozusagen in eine Art Narnia der Stigmas eingetaucht und provoziere Menschen damit, obwohl das was ich tue, eigentlich niemandem weh tut.
Wir sind Gewohnheitstiere. Ob ein Stück Schmuck durch das Ohrläppchen oder durch die Nase gestochen wird, ob ein Stück Farbe temporär oder bleibend am Körper haftet, wird zur Kernfrage unseres ideologischen Meinungskorsetts. “Dein Piercing ist ja noch voll okay, weil es ist so zart.” Ist das ein Kompliment? Nein, es ist eine andere Art zu sagen: ich toleriere dein Piercing, weil es kaum ein bzw. kein vollwertiges Piercing ist. Letztes wurde mir ins Gesicht gesagt: “Super, dass man das Tattoo kaschieren kann” und “Ich habe wirklich alle Jugendsünden durchgemacht, Gott sei Dank waren Tattoos keine davon!”. Brauche ich eine Zwischen-den-Zeilen-Übersetzung dazu? Wohl kaum.
Als ich letztes Jahr bekannt gab, mich fortan komplett vegan ernähren zu wollen, gab ich mich, für meine Verhältnisse, sehr zurückhaltend. Ich stellte alles, was ich bis zu dem Zeitpunkt für richtig und gut hielt, in Frage. Es war keine Kurzschluss-Entscheidung und keine Laune, sondern eine wohl überlegte Entscheidung, mein Leben in Frage zu stellen. In diesem Post beschwichtigte ich, versuchte so rational wie möglich zu bleiben, was mir wirklich schwer fiel. Als ehemalige Fleischesserin war mir aber klar, was viele FleischesserInnen von mir halten würden, denn meine Meinung über VeganerInnen war früher auch keine besonders Schöne.
To make a long story short: Ich wurde sehr weltgewandt erzogen und trotzdem ertappe ich mich im schablonenhaften Denken. Vor 2 Jahren hielt ich mich noch für besonders tolerant, trotzdem verurteilte ich VeganerInnen als unterernährte, Dogma-gesteuerte Ökos und wenn ich jemanden mit einem Tattoo sah, kam ein unkontrollierbarer Gedanke von Abwertung auf. Und ich zwei Jahren werde ich vermutlich dasselbe über mein jetziges Ich sagen, weil es noch so viel gibt, was ich nicht verstehe, weil es mir fremd ist. Worauf ich hinaus will? Manchmal wirkt Fremdes fern und wir lehnen es ab. Irgendwann kommen wir zur Erkenntnis, dass Fremdes eine Bereicherung sein kann und gar nicht so fremd ist, wie wir dachten. Und again: das gilt für Menschen, die anderweitig sind, aber auch für Lebenskonzepte, die wir vielleicht nicht ganz so nachvollziehen können.
Als vegan lebender Mensch provoziere ich viele Menschen. Warum? Weil viele nicht verstehen, dass ich nicht vegan geworden bin, um FleischesserInnen zu hassen, sondern um Tiere zu schützen. Dass es in erster Linie kein “gegen” sondern ein “für” ist. Ich kann noch so oft betonen, dass ich vegan lebe, weil der Großteil des Regenwalds gerodet und Einheimische vertrieben werden, um Kühe für Steak weiden zu lassen oder Soja als Tierfutter anzubauen. Ich kann noch so oft betonen, dass die Ausmaße des Algenteppichs in der Ostsee, aufgrund von Phosphor und Stickstoff der Gülleentsorgung aus Tierhaltung, mir im Herzen weh tun und ich diese Industrie nicht unterstützen möchte. Natürlich kann ich noch öfter betonen, dass unser Fleischkonsum und Welthunger korrelieren und dass ich einfach nicht möchte, dass mein Appetit auf Fleisch Kinder verhungern lässt. Ich kann noch so oft betonen, dass ich keinen Unterschied zwischen Tieren und Nutztieren mache, genau so, wie ich keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft mache.
Trotzdem greift das Gewohnheitstier Mensch lieber zuerst zu Abneigung und sieht etwas Fremdes als Angriff auf seine Identität und die Art, wie er oder sie ihr Leben bisher gelebt haben. Es ist leichter zu sagen “der Ausländer macht es falsch” als zu sagen “der Ausländer macht es anders”. Ich weiß es, weil ich es beim konkreten Beispiel Veganismus selbst durchlebt habe, weil ich beide Seiten kenne. Weil ich es in vielen anderen Lebensbereichen tagtäglich durchlebe, weil ich weder Saulus noch Paulus, sondern ein normaler Mensch bin, der damit zu kämpfen hat. Es ist einfacher etwas, was einem fremd ist, als Angriff zu sehen, als den Perspektivenwechsel zu wagen. Wie kann ich für ein Burka-Verbot sein, wenn ich selbst nie eine Burka getragen oder mit einer Frau gesprochen habe, die eine trägt? Wie kann ich Ausländer hassen, wenn ich mich noch nie in dessen Kultur- und Gedankenwelt begeben habe? Wie kann ich VeganerInnen verurteilen, wenn ich mich noch nie näher mit dem Thema befasst habe? Wie kann ich Tattoos scheiße finden, wenn ich selbst keine habe?
Bevor die passiv-aggressiven Tastatur-Krieger wieder “Moralapostel” schrei(b)en: besonders euch gilt dieser Post. Denn ich gebe offen zu auf einem Weg zu sein, der sich Leben nennt und mich bis zum letzten Atemzug begleiten wird. Ein Weg, auf dem ich mit jedem Lebensjahr mehr lerne, mehr verstehe und mehr wachse – mit allen Herausforderungen. Ich wünsche mir, in 5 Jahren nicht mehr so zu sein wie heute und freue mich über jeden Menschen auf meinem Lebensweg, der mir hilft, neue Perspektiven zu gewinnen. Es wäre schade, wenn ich mich für etwas besseres halten würde, weil es keine besseren und schlechten Menschen gibt, sondern nur solche, die sich auf Veränderung einlassen. Ich bin 27 und mit 67 denke ich mir vielleicht “Mensch, da warst du noch grün hinter den Ohren”. Und es stimmt: ich bin jung, ich weiß noch so wenig, ich bin oft dumm, intolerant und unwissend, oft einfach nur unterbewusst. Aber wisst ihr was? Toleranz und Offenheit sind kein Wettbewerb, sondern eine konkurrenz-befreite Reise, auf die wir alle eingeladen sind.
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